Das Komplexitätssyndrom: gesellschaftliche 'Komplexität' als intellektuelle und politische Herausforderung in den 1970er-Jahren
In: MPIfG discussion paper 15/7
In den 1970er-Jahren begannen Soziologen und Politikwissenschaftler, einen analytischen Begriff von Komplexität zu entwickeln, indem sie aus der allgemeinen Systemtheorie und Kybernetik entnommene Konzepte in die Gesellschaftstheorie, Policy-Forschung und Politikberatung übertrugen. Gesellschaftliche "Komplexität" war jedoch nicht allein ein Problem sozialwissenschaftlicher Theoriebildung, sondern wurde im Übergang von den 1960er- in die 1970er-Jahre zugleich als intellektuelles und politisches Problem "entdeckt" und diskutiert: Der Begriff verbreitete sich simultan in Sozialwissenschaften, Politik und öffentlich-intellektuellen Debatten. Auch in den theoretischen Überlegungen wurde Komplexität nicht allein in einem streng analytischen Sinn, sondern als zeitdiagnostisches Schlagwort und Metapher verwendet. Vor dem Hintergrund historiografischer Debatten über Entwicklungen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts untersucht der Aufsatz das Bedeutungskontinuum der Rede über gesellschaftliche Komplexität in den USA. Wieso gelangte das Thema in den 1970er-Jahren gleichzeitig zu wissenschaftlicher und zu politischer Prominenz? Was bedeutete es, Gesellschaft als "komplex" zu denken? Welche Konsequenzen waren aus Komplexitätsdiagnosen zu ziehen und wie veränderten sie Konzeptionen und Selbstverständnisse politischen Handelns?